Pressing prekär

Nach der 1:2-Heimniederlage gegen Liverpool glaubt nicht einmal Titelverteidiger Barcelona selbst noch an sich

BARCELONA taz ■ Von Zeit zu Zeit erinnert sich der Torwart an den menschlichen Fluchtinstinkt. Im Training versucht der Torwart täglich, sich diesen natürlichen Mechanismus abzugewöhnen, dem Stürmer entgegenzutreten, den Winkel zu verkürzen, wie das im Fachjargon heißt. Im Spiel jedoch, wenn keine Zeit bleibt zu denken, wenn der Torwart nur seinem Instinkt folgt, weichen selbst die besten Torhüter gegen ihren Willen manchmal vor dem Stürmer zurück.

Victor Valdés, der Schlussmann des FC Barcelona, den die Zeitung El País diese Saison schon in „Victor Rettetdiepunkte“ umbenannt hat, sah die Flanke hereinkommen und Craig Bellamy, den Stürmer des FC Liverpool, frei vor dem Tor. Victor Rettetdiepunkte hätte zwei Schritte nach vorne machen sollen, den Winkel verkürzen, aber er machte den Schritt zurück. Er fing den Kopfball von Bellamy glänzend – und als er landete, stellte er fest, dass er mit dem Ball im Tor lag. Der Fluchtinstinkt hatte ihn hinter die Torlinie getrieben.

Es war ein kurioses Tor, eine Glanzparade, die gleichzeitig ein schreiender Torwartfehler war, und ein passender Anfang vom Ende für den Champions-League-Titelverteidiger FC Barcelona: Diese Mannschaft ist immer noch so gut, dass sie selbst mithelfen muss mit tolpatschigen Fehlern, um zu verlieren. Doch das 1:2 im Vergleich der Cupgewinner von 2006 und 2005, die erste Europacup-Heimniederlage in vier Jahren, hatte sich schon lange angekündigt in einer Saison, durch die sich das einst fliegende Barça schleppt. Es bräuchte eine große Nacht, um im Rückspiel an der Anfield Road die Hypothek der Mittwochnacht zu tilgen. Allein, wer traut es ihnen noch zu? Offenbar nicht einmal ihr eigener Trainer: „Uns fehlt die Kraft, uns fehlt die Form“, jammerte Frank Rijkaard.

Der Fußball rollt längst zu schnell, seit 1990 feiert die Champions League jedes Jahr einen neuen Sieger. Selbst Barça, das großartigste Team seit dem AC Mailand der frühen Neunziger, wird nun offenbar nach nur einem Jahr vom Thron gestoßen. Die traurige Sehnsucht nach der guten alten Zeit, die doch nur ein Jahr zurückliegt, wohnt schon die gesamte Saison im Stadion Camp Nou. Obwohl Barça das Schwierigste schon geschafft zu haben schien, gegen dieses defensiv gut gestaffelte Liverpool ein Tor zu schießen, als Deco nach nur 14 Minuten zum 1:0 traf, ließen sie sich die Kontrolle nehmen. Valdés’ Fehler beim 1:1 und Verteidiger Rafael Márquez’ zu schüchterne Kopfballabwehr beim 1:2 durch John Arne Riise blieben die sichtbarsten Flecken. Doch Symptome der Vergänglichkeit waren überall.

Das automatisierte Pressing in vorderster Front war ein Markenzeichen des großen Barças, auch deshalb kassierten sie vergangene Saison in 13 Champions-League-Spielen nur fünf Tore, kein einziges davon aus dem Spiel heraus, sondern nur nach Eckbällen, Freistößen, Elfmetern. Heute findet dieses Pressing nur noch in Sequenzen statt. Barça, das im Sommer auf Schautournee nach Amerika ging, im Winter die Klub-WM in Japan spielte, hetzt von Spiel zu Spiel, ohne das nötige Training, ohne die nötige Fitness.

Es braucht keine Außergewöhnlichkeit mehr, um Barça zu besiegen. Man muss noch nicht einmal Fußball spielen. Man muss nur den von Barça verhindern. So wie dieses Jahr schon Madrid, Chelsea, Valencia genügte Liverpool Beharrlichkeit und eine vorzügliche defensive Ordnung. Nur Werder Bremen glaubte, gegen Barça in der Vorrunde mitspielen zu können, und wurde prompt vorgeführt.

In diesem Achtelfinale ist erst Halbzeit, aber im Camp Nou blieb ein Gefühl von Abschied. Victor Rettetdiepunkte, der bis zu dieser Partie so eine vorbildliche Saison gespielt hatte, nahm das schwarze Handtuch aus dem Tornetz, mit dem er während des Spiels seine Handschuhe trocknet. Als er vom Rasen ging, legte er es sich um die Schultern, Boxers Zeichen: Es ist vorbei, der Kampf verloren. Ronald Reng